Eine Seh-Reise in unbekannte Dimensionen

Der Botanische Garten aus der Sicht des Mikroskopikers

Wer bislang glaubte, den Botanischen Garten wie seine Westentasche zu kennen, wird mit diesem Beitrag eines Besseren belehrt. Er führt uns in unbekannte Dimensionen, die dem Besucher bei einem „klassischen“ Rundgang durch den Garten verborgen bleiben. Der renommierte Mikroskopiker Gerd Günther nimmt uns mit auf eine Seh-Reise in einen Kosmos, der für das menschlichen Auge ohne Hilfsmittel nicht sichtbar ist. Gerd Günther ist dem Botanischen Garten seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden und so freut es mich umso mehr, das er sich für einen Gastbeitrag bereitgefunden hat. Erkunden wir mit ihm die reizvolle Welt der kleinsten Dinge am Beispiel der Süßwasserbiotope des Gartens. Herzlichen Dank, lieber Herr Günther!

Ein Gastbeitrag von Gerd Günther

Der außergewöhnliche Artenreichtum des Botanischen Gartens erfreut zu allen Jahreszeiten eine Vielzahl von Besuchern. In diesem kurzen Beitrag möchte ich auch die für das unbewaffnete Auge unsichtbaren botanischen Schätze zeigen, die mit dem Mikroskop zu entdecken sind. Erfreulicherweise braucht man dazu keine weiten Wege zu gehen, sondern entdeckt auf Schritt und Tritt neue Kleinstbiotope mit ihren Bewohnern.

Wie alles begann
In Absprache mit den Mitarbeitern des Botanischen Gartens der HHU und der Kustodin Frau Dr. Etges konnte ich in den letzten Jahren viele der aquatischen Lebensräume des Gartens erkunden und für mehrere Projekte Bildmaterial zur Verfügung stellen, wofür ich mich an dieser Stelle nochmals bedanken möchte. Neben den konkreten Lebensformen, die es zu dokumentieren galt, wurden natürlich immer auch sehr viele andere Mitbewohner der jeweiligen Biotope dokumentiert, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten. Die meisten der hier vorgestellten mikroskopisch kleinen botanischen Lebensformen sind unter dem Begriff Algen einzuordnen, traditionell werden auch die Cyanobakterien dazu gezählt.Der überwiegende Teil der Algen bewohnt aquatische Biotope. Alle hier vorgestellten Arten sind Bewohner der Süßwasserbiotope des Gartens.

Probenentnahme

Wie kann man sich einen repräsentativen Überblick über die Vielzahl kleinster Lebensformen in aquatischen Biotopen verschaffen? Für einen groben Überblick genügt es, eine kleine Menge Wasser aus dem jeweiligen Biotop zu entnehmen. Darin finden sich natürlich nur die Organismengruppen, die in der jeweiligen Wasserschicht frei leben. Nimmt man zusätzlich noch Pflanzenreste und bodennahes Material mit, ist die Zahl der Organismen schon deutlich höher, da man auch aufsitzende und bodenbewohnende Lebensformen herausschöpft. Nach meiner Erfahrung erhält man einen sehr guten Überblick über fast alle Lebensformen eines Gewässerbiotops, wenn man neue Flächen zur Besiedlung in das Gewässer einbringt. In diesem Fall sind es Objektträger, die jeweils Rücken an Rücken in einem kleinen Rahmen (Bild links) für ca. 1 bis 3 Wochen in das Gewässer eingebracht werden. Je nach Jahreszeit werden diese Flächen sehr schnell besiedelt, es entsteht ein dreidimensionales Netzwerk mikroskopisch kleiner Lebensformen, das sogenannte Periphyton, das in seiner Komplexität und Artenzahl das Phytoplankton, die Gesamtheit der in der Wassersäule schwebenden Formen, bei weitem übertrifft.
Bis auf wenige Ausnahmen freipräparieter Einzelformen entstanden alle hier gezeigten Bilder allesamt aus diesen Aufwuchs-Objektträgern.

Zwei fädige Cyanobakterien der Gattung Oscillatoria

Cyanobakterien, früher Blaualgen genannt, sind die ältesten Lebensformen auf der Erde, fossil überlie-
fert als Stromatolithen mit einem Alter von 3,5 Milliarden Jahren. Sie gehören zu den Prokaryoten und
besitzen wie die Bakterien keinen Zellkern. In den Gewässern des Botanischen Gartens finden sich vor allem fädige Formen der Gattung Oscillatoria, die sich langsam kriechend durch das Präparat bewegen.
Auch makroskopisch finden sich Cyanobakterien, insbesondere nach längeren Regenwetterperioden,
als schleimiger Belag auf dem Boden, gebildet von der Gattung Nostoc. Erwähnenswert ist in diesem
Zusammenhang auch die große Gruppe der Flechten, hier sind die Cyanobakterien die Phycobionten,
die photosynthetischen Symbiosepartner dieser Organismengruppe.

Bidl links: Zwei Cyanobakterien-Fäden der Gattung Oscillatoria (unten) mit zwei Fäden der Grünalgen Gattung Spirogyra; Bild rechts: Fädige Cyanobakterien der Gattung Oscillatoria mit einer Kieselalgen Zelle der Gattung Navicula

In allen Gewässer des Botanischen Gartens kommen Kieselalgen in teils sehr großer Zahl vor. Sie leben auf der Erde seit der Kreidezeit, etwa vor 135 Millionen Jahren. Kieselalgen bilden die Grundlage der marinen Nahrungsnetze und produzieren mehr Sauerstoff als alle Regenwälder zusammen. Neuere Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 50% Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen, von Kieselalgen produziert wird.
Ohne die Kieselalgen gäbe es vermutlich keinen Nobelpreis. Nach der Entdeckung des Nitroglycerins
durch Alfred Nobel konnte er die extreme Gefährlichkeit diese Sprengstoffes beherrschbar machen,
indem die Flüssigkeit durch Kieselgur aufgesaugt wurde und so als Dynamit hanhabbar wurde. (Kie-
selgur ist ein aus fossilen Ablagerungen von Kieselalgenschalen entstandenes Sedimentgestein, ent-
standen vor 250 Millionen Jahren).
Makroskopisch erkennt man die Kieselalgen als rehbraunen Belag auf Steinen und anderen unter
Wasser befindlichen Oberflächen. Die Kieselalgen des Botanischen Gartens gehören vielen verschiedenen Gattungen an, auffällig sind hierbei die zahlreichen schiffchenförmigen Zellen der Gattung Navicula oder die auf Wasserpflanzen und Steinen festgehafteten Zellen der Gattung Gomphonema. Das bekannteste Merkmal der Kieselalgen ist ihre Schale aus Kieselsäure, in der sie wie in einer Schachtel eingesperrt leben. Die Plastiden sind durch Fucoxanthin braun gefärbt. Kieselalgen sind Eukaryoten.

Bild links: Kieselalgen der Gattung Diatoma, teilweise als doppelte Zellen und eine Zelle der Gattung Rhopalodia am linken unteren Bildrand; Bild rechts: Kieselalgen der Gattung Rhopalodia

Purpurbakterien an der Grenze zur sauerstofffreien Bodenschicht der Gewässer, eine Kolonie bei geringer Vergrößerung, das linke Bild bei hoher Vergrößerung

Diese auffälligen Purpurbakterien sind wie die Cyanobalterien lebende Fossilien aus der Frühzeit unse-
res Planeten, der noch weitgehend sauerstofffrei war. Die Purpurbakterien haben Bakterienchlorophyl-
le, die mit Hilfe des Lichts aus Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff Proteine produzieren können.
Dabei wird unter sauerstofffreien Bedingungen elementarer Schwefel anstatt Sauerstoff freigesetzt.

Die Augenflagellaten sind geißelbewegliche Algen mit zahlreichen, kreisförmigen Chloroplasten und
dem namensgebenden roten Augenfleck. Die Geißeln sind auf beiden Aufnahmen nicht erkennbar. Als
Reservestoff werden große Paramylon Körner gebildet, eines davon ist im oberen Bild erkennbar.

Augenflagellanten der Gattung Phacus, das linke Bild mit einem Cyanobakterien Faden der Gattung Anabena

Eine weitere sehr artenreiche Algengruppe sind die Schmuckalgen oder Zieralgen. Einige Gattungen
kommen in den Gewässern des Botanischen Gartens regelmäßig vor. Viele dieser symmetrischen Formen sind jedoch an besondere Bedingungen gebunden. Hier sind insbesondere Formen sehr stark gefährdet, die an die niedrigen pH-Werte der Hochmoore angepasst sind. Durch den intensiven Abbau werden deren Lebensgrundlagen zerstört.

Bild links: Fädige Gattungen aus der Gruppe der Zieralgen: Zygnema mit sternförmigen Chloroplasten (obere zwei Fäden) und Spirogyra mit spiralig der Zellwand anliegenden, bandförmigen Chloroplasten; Bild Mitte: Algenfaden der Gattung Spirogyra mit einer Algenkolonie der Gattung Coelastrum; Bild rechts: Algenzelle der Gattung Cosmarium mit der für die Zieralgen typischen Symmetrie und einem Chloroplasten je Zellhälfte. Die Zelle ist in der Mitte verbunden, dort liegt meist auch der Zellkern.

Bild links: Zieralgenzelle der Gattung Cosmarium und zwei Fäden der Gattung Spirogyra. Auf der Oberfläche des oberen Fadens erkennt man einzelnen Bakterienzellen; Bild rechts: Ein Vertreter der Gattung Closterium, auch hier ist die für Zieralgen typische Symmetrie zu sehen. Der Zellkern ist deutlich in der Zellmitte zu erkennen.

Zum Abschluss der Bilderserie soll ein tierischer Repräsentant vorgestellt weren: Das Sonnentier Actinophrys, das sich hier auf einem Faden der Gattung Spirogyra bewegt.

Das Titelbild zeigt einen Vertreter der Gattung Closterium.

Wer mehr über Gerd Günther und seine Arbeit erfahren möchte, wird auf www.mikroskopia.de fündig.

Literatur :
Der Kosmos-Algenführer
Linne von Berg, Karl-Heinz, Hoef-Emden, Kerstin, Marin, Birger, Melkonian, Michael,
Stuttgart: Franckh-Kosmos-Verl., [2004]
Algae (2nd Edition) – Hardcover
Graham, James E.; Wilcox, Lee W.; Graham, Linda E.
ISBN 10: 0321559657 ISBN 13: 9780321559654
Benjamin Cummings, 2008
Biodiversität und Erdgeschichte
Jens Boenigk, Sabina Wodniok
Springer Spektrum (Verlag) 2014
978-3-642-55388-2 (ISBN)


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