Man sollte sich nicht täuschen lassen. Die Mistel ist mehr als ein beliebter Advents- und Weihnachtsschmuck. Schaut man sich ihre „Vita“ näher an, findet man neben der wissenschaftlichen Abhandlung Begriffe wie „Goldene Sicheln“, „Vogelmist“, sogar „Kusskugeln“. Ein näherer Blick auf dieses „merkwürdige“ Lebewesen lohnt sich daher nicht nur aus botanischer Sicht, wo sie seit Jahrhunderten Gelehrte fasziniert.
Nun, wo die Bäume ihr Laub abgeworfen haben, werden sie auch im Botanischen Garten wieder deutlich sichtbar: Misteln, die kugelartigen Gewächse, die, wenn sie einmal Fuß gefasst haben, in beeindruckender Fülle und Menge ihre Gastgeber besiedeln können. Doch man sollte sich nicht täuschen, auch wenn Misteln Kugeln mit einem Durchmesser von bis zu maximal einem Meter erreichen können, schnellwüchsig sind sie nicht. Ihr Wachstum ist sehr langsam, Zweige mit einer Länge von 50 Zentimetern können gerne 30 Jahre alt sein.
Große Kugeln, die hoch oben in den Bäumen zwischen Himmel und Erde hängen, scheinbar ohne Wurzeln, wintergrün und nach allen Seiten wachsend, kein Wunder, dass die Mistel unseren Vorfahren als heilig und von den Göttern gesandt erschien. Und als Gottesgeschenk musste sie natürlich Zauber- und Heilkräfte entfalten können. Den meisten von uns wird die Mistel als Zaubertrank bekannt sein, die der Druide Miraculix für seine tapferen Gallier Asterix und Obelix braute. Tatsächlich galt sie besonders den Kelten und Germanen als heiliger Glücksbringer und Fruchtbarkeitssymbol. Sie wurde von den heilkundigen Druiden als Arznei verwendet, die sie mit einer goldenen Sichel ernteten. Auch der griechische Arzt Hippokrates hat sie bereits vor über 2000 Jahren als Arzneipflanze verwendet. In der heutigen Medizin ist ihre heilende Wirksamkeit belegt, sie wird gegen Entzündungen und Krämpfe, aber auch in der Krebstherapie eingesetzt. 2003 wurde sie Heilpflanze des Jahres.
Im Glauben an die Zauberkraft der Misteln wurden Mistelzweige zum Schutz vor Feuer und bösen Geistern an der Hauswand aufgehängt. Von den Germanen weiß man, dass sie zur Wintersonnenwende Mistelzweige als Glücksbringer abschnitten. Die Verehrung der Pflanze hielt sich über die Jahrhunderte. Sie wurde in die christlichen Traditionen integriert und galt als segnende und friedensstiftende Pflanze. Unter ihr versöhnte man sich und gab sich den Friedenskuss. War das der Auslöser für das „Kissing under the mistletoe“? Der Ursprung des Küssens unter dem Mistelzweig ist jedoch nicht eindeutig belegt. Der Brauch entwickelte sich in England im 18. Jahrhundert, wo der Mistelbusch seit jeher die Hauptrolle als Weihnachtsschmuck bildete und die weißen Beeren der Mistel „Kusskugeln“ genannt wurden. Mädchen, die unter einem aufgehängten Zweig standen, durften geküsst werden (und durften sich den Küssen auch nicht verweigern), wobei die Anzahl der Beeren die Zahl der Küsse bestimmte. Nach jedem Kuss wurde eine Beere entfernt. Hatte der Zweig keine Beeren mehr, war das Spiel beendet. Da sollte man sich schon überlegen, welchen Mistelzweig man auswählt! Auch bei uns ist der Mistelzweig seit einigen Jahren wieder ein begehrter und attraktiver Advents- und Weihnachtsschmuck. Nur schade, dass die Mistel ohne ihren Wirtsbaum kein Wasser mehr aufnehmen kann und daher schnell vertrocknet.
So ein Mist! An sich eine erheiternde und einleuchtende Vorstellung, dass der germanische Name „Mistel“ auf das althochdeutsche „Mist“ zurückzuführen sein könnte. Schließlich werden die Mistelsamen von Vögeln gefressen und gelangen durch unverdauliche, aber immer noch keimfähige Ausscheidungen (Vogelmist) wieder auf die Bäume. Tatsächlich ist die Bedeutung des Namens jedoch noch nicht abschließend geklärt.
An Mist haben die Kunsthandwerker sicher nicht gedacht, als im Jugendstil ab ca. 1890 die große Zeit der Misteldekore anbrach. Die neue Hinwendung zu Naturvorbildern, deren Formen graphisch dekorativ umgesetzt wurden, konnte mit bestimmten Gewächsen und Blüten besonders gut erreicht werden. Hierzu gehörte auch die Mistel, die nicht nur durch ihre Form, sondern auch durch ihre tiefere Bedeutung dem Zeitgeist der Epoche entsprach. Und so finden sich auf Schmuck und Geschirr, Vasen und Zierrat zauberhafte, stilisierte Mistelzweige, Blätter und Beeren. Ein wahres Gottesgeschenk!
Nach so vielen, spannenden Facetten der Pflanze zum Schluß noch etwas Botanik. Die Weißbeerige Mistel (Viscum album) ist ein strauchiger, wintergrüner Halbschmarotzer, der auf den Ästen seiner Wirtsbäume parasitär aufsitzt und ihnen Wasser und darin gelöste Mineralsalze entzieht. Es gibt drei Unterarten: die Laubholz-, Tannen- und Kiefern-Mistel, wobei die Namen auf ihre jeweiligen Wirtspflanzen hinweisen. Die Mistel ist zweihäusig. Sie blüht bereits früh im Jahr, für ihre Befruchtung sorgen vor allem Fliegen, Bienen und Hummeln, aber auch der Wind. Die weißen Beeren reifen in der Adventszeit heran, wo sie bei fast 30 Vogelarten als Winternahrung begehrt sind. Da die Beeren unverdaulich und von einem klebrigen Schleim umgeben sind, werden sie entweder mit dem Kot ausgeschieden oder durch das Abwetzen der Klebmasse an Ästen von den Vogelschnäbeln entfernt. Bei der Keimung bildet sich zunächst eine Haftscheibe, aus der ein Saugfortsatz in die Rinde des Wirtsbaumes hineinwächst, um dessen Leitungsbahnen zu erreichen. Dieser Keil kann im Laufe des Wachstums bis zu einem halben Meter in den Baum eindringen. In der Regel fügen die Misteln ihren Wirten keinen dauerhaften Schaden zu. Bei starkem Befall kann es jedoch zu einer verminderten Wuchsleistung und geringerem Fruchansatz kommen. Im Extremfall sterben nicht nur befallenen Äste, sondern der ganze Baum ab.
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Beim Verfassen dieses Beitrages waren besonders hilfreich
Hans Becker, Helga Schmoll: „Mistel, Arzneipflanze, Brauchtum, Kunstmotiv im Jugendstil“, Stuttgart 1986 und
Ruprecht Düll, Herfried Kutzelnigg: „Taschenlexikon der Pflanzen Deutschlands und angrenzender Länder“, Wiebelsheim 2016