In ihrer Kindheit wollte Hannah Nelsen unbedingt eine bis dahin unbekannte Pflanze entdecken und suchte danach am Wegesrand und auf Wiesen. Namensgeberin einer neuen Pflanzenart wurde sie nicht, aber ihre eigene Pflanzenwelt hat sie sich dennoch erschaffen. Beim traditionellen Rundgang der Kunstakademie Düsseldorf stellte die Kunststudentin in diesem Jahr ein „Diorama“ vor, eine üppige tropische Landschaft, zu deren Entstehung auch der Botanische Garten beigetragen hat.
Mitte September 2022 fragte Hannah Nelsen bei Gartenmeister Fischbach an, ob der Botanische Garten sie bei der Realisation ihres Dioramas unterstützen und sie einige Blätter, Zapfen und Blüten aus dem Botanischen Garten erhalten könnte. Da das Team des Botanischen Gartens bereits in der Vergangenheit einige Male anderen Kunststudierenden helfen konnte und es stets besondere Fragestellungen und beeindruckende Ergebnisse gab, war es auch hier selbstverständlich, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Vor allem Andreas Fischbach begleitete sie bei ihrer „Schatzsuche“ im Garten und beriet sie bei der Auswahl der Materialien, getreu dem Motto „Pflanzen, Lebewesen und Kunst sind immer eine spannende, tolle Kombination“ (Andreas Fischbach).
Aber was nun genau ist ein Diorama? Ursprünglich war es eine im 19. Jahrhundert von Louis Daguerre und Charles Marie Bouton erfundene, abgedunkelte Schaubühne, die durch die effektvolle Kombination von durchscheinendem, bemaltem Stoff, Licht und Bühnentechnik eine neue Form der Illusion erschuf. Ab ca. 1900 änderte sich die Bedeutung des Begriffs. Heute versteht man unter Dioramen Schaukästen bzw. Szenarien, in denen vor einem oft halbkreisförmigem, gemaltem Hintergrund plastische Elemente so geschickt platziert und kunstvoll miteinander verwoben werden, dass eine fast perfekte Illusion von räumlicher Tiefe und Wirklichkeitsnähe erzeugt wird. Insbesondere in naturkundlichen Museen findet man Dioramen, die komplette Lebensräume und -situationen naturgetreu und detailreich abbilden und in deren Mittelpunkt oft ein präpariertes oder nachempfundenes Tier steht.
Im Gegensatz hierzu stellt das Diorama von Hannah Nelsen keinen realen Ort nach. Es handelt sich vielmehr um eine Fiktion, die sich der Mittel des wissenschaftlichen Dioramas bedient. Zwar verwendet auch sie einen halbkreisförmigen Hintergrund, der hier aus gebogenen Keilrahmen besteht, die mit Leinwand bezogen sind (ein mühseliges Unterfangen!). Die Wände sind jedoch mit einer Dschungellandschaft bemalt, einem unbestimmten Ort, der in der Natur nicht besteht. Der unwirkliche Eindruck wird verstärkt und überspitzt durch die grellen Farben, die sie verwendet hat. Phthaloblau, Chromoxidgrün, Cadmiumgelb und -rot dominieren.
Vor dem Hintergrund des Prospekts entfaltet sich eine Pflanzenwelt, die ebenso künstlich ist wie die gemalten Pflanzen. Und hier kommt nun der Botanische Garten ins Spiel. Künstliche Pflanzen aus dem Botanischen Garten? Ein Paradoxon, das sich bei näherer Betrachtung jedoch auflöst. Von den perfekten Materialien, die Hannah Nelsen im Garten gesammelt hat, wurden zunächst Abdrücke gemacht. Daraus entstanden dann mit PET-Material im Tiefziehverfahren und mit Schnellgießharz Pflanzenkomponenten, die in aufwendiger Handarbeit ausgeschnitten, bemalt und dann zu neuen Pflanzenwesen zusammengesetzt wurden. Feuerradbaum, Japanische Hainbuche, Magnolienzapfen, die Beeren der Mistel und viele andere Pflanzen dienten als Vorlage, aber die im Diorama vorgestellten Gewächse sind in der Natur nicht vorhanden. Sie wurden in einem wahren Materialmix zu Chimärenpflanzen. Verschiedene Pflanzenteile, wie zum Beispiel Eukalyptusblätter, wurden getrocknet, gebügelt, dann aber ebenso wie die Plastikpflanzen mit einer Kombination aus Pinsel- und Airbrush bemalt.
Ein besonders schönes Beispiel für eine Phantasiepflanze stellt dieses Gebilde dar. Es besteht aus getrockneten und kolorierten Eukalyptus-Blättern, PET-Blütenblättern von einem Sonnenhut und aus mit Schnellgießharz nachgebauten Fruchtkörpern einer Magnolie. Gehalten wird es von einem ummantelten Drahtgeflecht.
Seit August letzten Jahres hat Hannah Nelsen an dem Diorama gearbeitet. Entstanden ist eine Installation, die das Künstliche auf die Spitze treibt und auf die Einwirkungen des Menschen auf die Natur und die daraus resultierenden extremen Auswirkungen hinweisen soll. Konsequenterweise wurde dann auch nicht, wie in den naturkundlichen Dioramen üblich, ein präpariertes Tier in den Mittelpunkt gestellt. Im Zentrum des Dioramas hat Hannah Nelsen einen kleinen Platz freigelassen, auf dem sich die Betrachter in das Kunstwerk stellen können und somit selber zum zentralen Bestandteil des Dioramas werden.
Hannah Nelsen, Jahrgang 2002, hat gerade das fünfte Semester an der Kunstakademie abgeschlossen. Sie studiert bei Professorin Dominique Gonzalez-Foerster. Künstliche Natur! In ihrer künstlerischen Arbeit spielt die Auseinandersetzung mit der Natur und die Frage nach menschgemachter Natur eine wichtige Rolle. In der von ihr kuratierten Ausstellung „Living Sculptures“ im Juni 2021 in Dülken hat sie Zimmerpflanzen aus verschiedenen Haushalten ausgestellt, die wie Skulpturen auf Sockeln präsentiert wurden. Sie wollte damit verdeutlichen, dass ihre jetzige Form unter dem Einfluss ihrer Besitzer entstanden ist, der Besitzer also im weitesten Sinne ein Bildhauer ist, der lebende Skulpturen schafft. In ihrem privaten Pflanzenzimmer haben dagegen längst die Pflanzen die Oberhand gewonnen!
Drücken wir Hannah Nelsen die Daumen, dass ihr Diorama bald auch an anderen Orten ausgestellt wird.