Bereits Anfang Juni 2019 hat der Naturheilverein NHV Theophrastus die Gewöhnliche Wegwarte (Cichorium intybus) zur Heilpflanze des Jahres 2020 gekürt. 2005 war sie schon „Gemüse des Jahres“ und 2009 „Blume des Jahres“ in Deutschland. Vielleicht ist sie auf Grund des langen zeitlichen Vorlaufs – inzwischen wurde bereits die Heilpflanze 2021, der Meerrettich, benannt – in ihrem Ehrenjahr schon wieder weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei blüht die himmelblaue Sonnenbraut, wie sie im Volksmund auch genannt wird, gerade zu dieser Jahreszeit besonders schön an Wegrändern, und sie hat mehr als nur einen Blick im Vorübergehen verdient.
Die hohen Exemplare der Gewöhnlichen Wegwarte oder Wilden Zichorie wirken auf mich immer wie „lebende Antennen“ mit blauen Köpfchen. Die bis zu über einen Meter hoch werdende, mehrjährige Pflanze ist ein sparrig verzweigter Korbblütler (Asteraceae) mit meist hellblauen, gelegentlich auch weißen Blütenkörbchen, die ausschließlich aus Zungenblüten bestehen. Ihre fleischige Pfahlwurzel kann bis zu 30 cm lang werden. Von Juni bis Oktober erfreut sie mit ihren Blüten an Feldrainen und Wegrändern. Ihre Blüten öffnen sich in den Vormittagsstunden und wenden sich der Sonne zu, am frühen Nachmittag schließen sie sich. Die Wegwarte sollte deshalb in keiner Blumenuhr fehlen. Auf Grund ihrer Zuneigung zur Sonne wird sie auch Sonnenwedel oder Sonnenbraut genannt. Ihre Eigenart, den Nachmittag und Abend zu „verschlafen“, trug ihr aber auch wenig schmeichelhafte Bezeichnungen wie „Faule Magd“ oder „Faule Gretel“ ein.
Schon im Altertum wurde die Pflanze als Gemüse-, Salat- und Heilpflanze genutzt. Bereits Hildegard von Bingen verordnete gegen Verstopfung eine Rezeptur mit der Wegwarte, die von ihr Sunnenwirbel genannt wurde.* Die Wegwarte soll zur Linderung bei Verdauungsbeschwerden wie Völlegefühl, Blähungen, langsamer Verdauung und zeitweisem Appetitmangel beitragen. Im Digitalen Apothekergarten der HHU Düsseldorf ist sie auch als ein traditionelles Mittel zum Anregen von Gallenproduktion und Gallenfluss aufgeführt. Der Besuch der Seite ist sehr zu empfehlen, wenn man sich über die wissenschaftlich relevanten Aspekte von dieser Pflanze informieren möchte. Das Bundeszentrum für Ernährung macht auch darauf aufmerksam, dass neben der Nutzung als Heilpflanze die ganze Pflanze von der Wurzel über die Stängel bis zu den Blättern essbar ist. Eine echte Alleskönnerin also!
Bekannt ist die Wegwarte oder Zichorie auch dafür, dass ihre Wurzeln als Kaffeeersatz verwendet werden können. Friedrich II. von Preußen verbot die private Einfuhr und den Handel mit dem kostspieligen Übersee-Kaffee, was nicht nur einen lebhaften Schmuggel befeuerte, sondern auch die Suche nach Alternativen förderte und zur Erfindung des Zichorienkaffees, umgangssprachlich „Muckefuck“, führte. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden zahlreiche Fabriken zur Herstellung des Getränks errichtet. Erst ab dem Endes des 19. Jahrhunderts ließ die Nachfrage nach Zichorienkaffee nach, und er fand vorwiegend nur noch in Not-und Kriegszeiten Verwendung. Im Sprachgebrauch geblieben ist die Bezeichnung „Muckefuck“ als Synonym für „dünnen Kaffee“. Heute noch sehr beliebte Varietäten der Gewöhnlichen Wegwarte sind dagegen die Bittersalate Chicorée und Radicchio. Was für eine Karriere!
Bei so einer vielseitigen Schönheit ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich Aberglauben, Sagen und Legenden um die Pflanze ranken. Meine Lieblingslegende handelt von einem schönen Burgfräulein, das vor dem Stadttor am Wegrand mit ihren Jungfrauen auf die Rückkehr ihres Liebsten von einem Kreuzzug wartete. Aber: sie warteten vergeblich, viele Tage lang. Schließlich hatte der Himmel ein Einsehen und verwandelte das Burgfräulein mit ihrem Gefolge in Blumen, die Wegwarten. Seitdem ich diese Geschichte kenne, staune ich immer darüber, wie viele unglückliche Jungfrauen in den Sommermonaten am Wegesrand stehen.
Zurzeit blühen die Wegwarten besonders schön in den naturbelassenen Rasenstücken im Botanischen Garten. Ein Besuch in den Morgenstunden lohnt sich. Denn es stimmt, am frühen Nachmittag schließen sich die Blüten und die Wegwarte wird zu einem unscheinbaren Mauerblümchen.
* Quelle: NHV Theophrastus
http://www.botanischergarten.hhu.de/besucherinformation/der-digitale-apothekergarten.html